Liebe Träger eines Bewusstseins,
seinen Verstand, sein Bewusstsein, also sein "Ich" in einen Computer hochzuladen, ist seit etlichen Jahren ein beliebtes Motiv in Sci-Fi-Literatur und -Filmen und eventuell ein Traum etlicher Menschen. Die herausragendsten bzw. gelungensten literarischen Beispiele der neueren Zeit sind "Cyber-City" und "Diaspora" von Greg Egan, das Witzigste vermutlich die TV-Serie "Upload" von Greg Daniels (zu sehen bei Amazon Prime-Video).
In letzter Zeit sind zwei weitere Romane erschienen, die sich diesem Thema widmen, "Corvus" von Neil Stephenson (2019, dtsch. Ausgabe im Goldmann-Verlag 2021) und "Die Abschaffung des Todes" von Andreas Eschbach (Lübbe, 2024, die Erstauflage hat einen hübschen roten Farbschnitt). Eschbach hat sich schon etabliert als bedeutendster SF-Schriftsteller im deutschsprachigen Raum ("Das Jesus-Video", "Herr aller Dinge", "Solarstation" und viele andere) und über den mittlerweile 65-jährigen Neil Stephenson ("Cryptonomicon", "Snow Crash" oder "Diamond Age") braucht man erst recht kein Wort verlieren!
In beiden Werken geht es darum, dass jemand mit viel Geld einen Weg finden will, sich durch den sog. "Upload" Unsterblichkeit zu verschaffen, indem das "Ich" weiterlebt, auch ohne die sterbliche Hülle. Aber beide Romane könnten verschiedener nicht sein!
Wer die Bücher allerdings selbst lesen und vorher nichts verraten haben will ("Spoiler"), der sollte jetzt besser nicht weiterlesen.
Handlung
In Corvus geht es um den schwerreichen Computerspiel-Erfinder Richard "Dogde" Forthrast (schon bekannt aus dem ebenfalls empfehlenswerten Roman "Error"), der überraschend stirbt und verfügt hatte, dass sein Gehirn konserviert werden solle für einen möglichen Upload, wenn die Technologie dafür ausgereift sein wird. Etliche Jahre später gelingt es tatsächlich, und er erwacht in einer virtuellen Umgebung. So weit, so gewöhnlich. Aber anders als bei allen anderen Auseinandersetzungen mit dem Thema - und das macht den Roman so besonders - wacht Dodge auf nicht mit seinen Erinnerungen, sondern muss sich seine Existenz, sein Mensch-Sein, die Welt, ihre Begriffe und sämtliche Gegenstände erst neu erfinden. Nicht nur fehlen ihm anfangs Wörter, sondern auch die Vorstellung von Wörtern. Kommunikation mit der realen Welt ist auch unmöglich - eigentlich eine enttäuschende, ja sogar alptraumhafte Vorstellung, nicht? Vielleicht nur aus unserer Sicht, denn ihm fehlt ja jedes Wissen über unsere Welt, nur tiefe, unbewusste Vorstellungen und Ahnungen, die er aber nicht ausdrücken kann und die erst nach und nach an die Oberfläche kommen. Er steckt wie in einem Gefängnis, das er allerdings gestalten kann, wie er will. Er wird zum Gott dieser Welt. Kompliziert wird es, als andere Bewusstseine ge-uploadet werden und in der gleichen Welt landen, Verwandte, Kollegen - und ehemalige Konkurrenten, die sich mit Geld und einem Heer von Rechtsanwälten das Recht erstritten hatten, ihr Gehirne dem gleichen Prozess zu unterwerfen. Dodge wird aus der (virtuellen) Welt, die er erschaffen hat, verbannt und muss fortan in einem Exil leben. Können ihn seine Enkelin und sein alter Freund und Weggefährte, die Jahrzehnte später sterben, daraus befreien?
In der "Abschaffung des Todes" geht es um den englischen Journalisten und Chef eines privaten Nachrichtendienstes, James Windover, der von einem seiner elitären Kunden beauftragt wird, ein Startupunternehmen zu überprüfen, das dabei ist, Millionen an Kapital aufzutreiben für ein Unternehmen des charismatischen Entepreneurs Peter Young, das seinen Kunden Unsterblichkeit durch Übertragung des Bewusstseins in einen Computer verspricht. Soll hier nur Geld abgezockt werden wie im Fall Theranos oder steckt da doch mehr dahinter? Im Zuge seiner Recherchen stößt Windover auf den Autor einer Science-Fiction-Geschichte zum gleichen Thema Upload, die Young dem Autor um eine hohe Summe abgekauft und komplett aus dem Verkehr gezogen hat. Was will Young hier unterdrücken? Windover lässt nicht locker und es gelingt ihm schliesslich, den untergetauchten Autor in einem Dorf in Frankreich ausfindig zu machen, um ihn nach seiner Geschichte zu fragen. Doch kaum wechselt er ein paar Worte mit ihm, wird der Autor angeschossen und es kommt zu einer Verfolgungsjagd über mehrere Kontinente. Die Verfolger sind offenbar angeheuert von Young und wollen nicht zulassen, dass der Autor ein Geheimnis verrät, dass das Millionenunternehmen in Gefahr brächte...
Kritik
Beide Romane spielen zunächst in der Gegenwart. Doch während bei Eschbach die Handlung in der Gründungsphase des Unternehmens steckenbleibt und die Leser nicht erfahren werden, ob das Verfahren jemals gelingen wird, erstreckt sich Corvus über Jahrzehnte und beschreibt genau, was ein Mensch erwarten könnte, der "auf der anderen Seite" aufwacht. Von daher gibt Corvus mehr her und ist wesentlich kreativer und inhaltsreicher und tatsächlich ein (hard) SF-Roman, während "Die Abschaffung des Todes" zurecht als Thriller bezeichnet wird, der auch Krimi-Fans, die mit SF nicht viel am Hut haben, begeistern könnte. Andererseits verlangt Corvus dem Leser einiges mehr an Geduld ab. Bei manchen Handlungssträngen der Akteure in der virtuellen Welt fragt man sich, was der Autor damit beabsichtigt und ob eine so genaue Beschreibung wirklich notwendig ist oder nicht eher vom eigentlichen Thema ablenkt.
Fazit
Beide Werke sind lesenswert. Wer eher auf Unterhaltung und Spannung mit gelegentlichen philosophischen und neurologischen Einschüben wert legt, der sollte zum Eschbach greifen. Wer Stephenson´s Art mag, Dinge auf das Genaueste zu sezieren und ihnen auf den Grund zu gehen, gepaart mit einer unglaublichen Kreativität, und dabei viele Einsichten vermittelt bekommt, und wer sich nicht von einem 1149 Seiten-Wälzer abschrecken lässt, dem kann getrost "Corvus" ans Herz gelegt werden. Wer sich eher über den tatsächlichen Stand der Entwicklung des Bewusstseinsuploads und die konkreten (theoretischen) Möglichkeiten informieren will, ist besser bei Eschbach dran, der zu dem Thema umfangreich recherchiert hat, wer ein episches Werk lesen will, das einen noch längere Zeit danach beschäftigt, ist besser bei Stephenson aufgehoben - am besten beides auf den Wunschzettel schreiben!
Hat jemand einen der beiden Romane gelesen? Schreibt mir, wie sie Euch gefallen haben!
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