Ich wache auf und merke sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich öffne die Augen und sehe mich blinzelnd um. Diffuses Licht blendet mich. Mein Kopf dröhnt, jede Bewegung schmerzt. Wo bin ich? Ich liege auf dem Boden, auf einer abgewetzten Matratze, links und rechts von mir liegen oder kauern verlumpte Gestalten. Entferntes Hundegebell. Ein kalter Wind weht. Ich versuche aufzustehen, und schaffe es, stolpernd auf die Beine zu kommen. Ich friere und reibe meine Hände. Ich befinde mich in einem riesigen, offenen Areal, unter freiem Himmel, keine Gebäude, nur endlose Reihen von Matratzen – und Menschen. Ich bin verwirrt und Angst lähmt meinen Verstand. Angst und eine schreckliche Ahnung, dass sich mein Leben für immer verändert hat. Langsam gehe ich in irgendeine Richtung, es macht keinen Unterschied. Ich spreche Leute an, doch sie starren nur vor sich hin, ihr Blick leer. Ein alter Mann mit einem grauen Bart, in einem staubigen Mantel - ich selbst trage auch so einen Mantel, stelle ich mit Entsetzen fest - steht stumm da, der Mund gräßlich verzerrt. Ich rüttle ihn an der Schulter, seltsam kraftlos. Da schaut er auf und sieht mich stumm an. Ich frage ihn, wo wir seien. Keine Reaktion. Ich will schon weitergehen, da hebt er langsam einen Arm. Der Arm zeigt in eine Richtung und verharrt dort. Ich frage weiter, doch vergeblich. Ich gehe in die Richtung, in die der Arm zeigt. Später drehe ich mich um und sehe nocheinmal zurück. Der Arm zeigt in meine Richtung. Ich wende mich ab und gehe weiter, immer weiter. Es ist kalt, meine Füße frieren, der Wind hat meine Ohren und Wangen taub gemacht. Ich trotte mechanisch weiter. Es ist still geworden, bis auf das ewige Heulen des Windes. Endlich erkenne ich etwas in der Ferne. Einen hohen Zaun, der scheinbar endlos nach links und rechts reicht. Kein Tor, nur endloser Zaun. Ich bleibe stehen, sammle meine letzen Kräfte. Langsam nähere ich mich dem Zaun. Da tritt aus dem Nebel ein Mensch heraus – ein Kind. Es sieht mich an. Sein Blick ist kalt. Es beobachtet mich genau – wie ein Tier, denke ich. Sein Mund verzieht sich zu einem grausamen Lächeln. Ich will etwas sagen, doch schon entzieht es sich meinem fragenden Blick und weicht zurück in den Nebel. In meinem Kopf bildet sich nur ein Wort - „Warum“. Ich will schreien, doch es ist unmöglich. Ich sinke nieder, völlig erschöpft. Dunkelheit bricht über mir herein.
http://profence.com.au/galvanized-mesh-fencing/, verändert mit Adobe® Photoshop® Elements
Hustend und spuckend erwache ich wieder. Jemand hat mich mit Wasser übergossen. Ich will wissen, wer es war, aber sehe nur noch, wie sich eine Gestalt rasch entfernt. Ich blicke ihr nach. Schon ist sie im Nebel verschwunden. Ich versuche, so viel Wasser wie möglich aufzunehmen, denn ich merke, wie durstig ich bin. Doch das meiste ist schon in meine Kleidung und im Boden versickert. Ich liege neben dem Zaun. Es ist hell, aber trüb, der Wind pfeift. Ich richte mich auf, bleibe, am Zaun angelehnt, stehen. In der Ferne erahne ich das endlose Matratzenlager mit den reglosen Gestalten, zu denen mich nichts zieht. Ich versuche nachzudenken. Ich muß auf die andere Seite des Zauns gelangen, irgendwie. Ich taste meine Taschen ab, auf der Suche nach etwas Nützlichem. Alles was ich finde sind Brösel in den Manteltaschen, einen Kaugummi, einen kleinen Schlüssel (mir will nicht einfallen, wozu er gehört) und – ein Taschenmesser. Besser als nichts, denke ich und setze mich in Bewegung, am Zaun entlang. Mein Verstand arbeitet noch nicht richtig, doch mir ist klar, dass es – mit meinen Mitteln und in meinem Zustand - keinen Weg über Zaun und Stacheldraht gibt. Ich versuche am Zaun entlang zu gehen, bis ich auf ein Tor stosse, oder auf Menschen, die mir helfen könnten. Ich habe keine Ahnung, wie groß das Areal ist, in dem ich mich befinde. Ich gehe sehr rasch, doch bald stelle ich fest, dass mich das viel Kraft kostet und meine Lungen zu schmerzen beginnen. Etwas ist mit der Luft nicht in Ordnung. Ich gehe langsamer und beobachte den Zaun. Obwohl er alt aussieht, ist er tadellos. Manchmal bleibe ich stehen und rüttle daran - er gibt überhaupt nicht nach, als ob es kein Zaun wäre, sondern eine massive Wand. Manchmal finde ich eine Stelle, die ausgebessert scheint, in einer anderen Farbe. Ich überprüfe die Nahtstellen und finde nie einen Fehler, eine Schwachstelle. Die Zeit vergeht, noch immer kein Tor, kein Mensch und keine Gebäude in Sicht. Hunger, Durst und Kälte setzen mir zu. Verzweiflung macht sich breit. Endlich macht der Zaun eine Biegung, um 90 Grad. Aber nicht in die Richtung, die ich erwartet hatte. Statt das Lager und die Menschen weiter einzuschliessen, geht er in der entgegengesetzen Richtung weiter und ein weiterer Bereich, so leer wie der bisherige, öffnet sich vor mir. Ich bleibe verdutzt stehen. Es ergibt keinen Sinn. Mir läuft die Zeit davon. Bald wird es dunkel werden und ich weiß nicht einmal, wohin ich gehen soll. Dem Zaun weiter folgen oder zurück zu den apathischen Gefangenen (wenn es denn welche sind)? Oder geradeaus weiter? Bevor ich mich entscheiden kann, sehe ich aus genau dieser Richtung eine Gestalt langsam näherkommen.
Ich bleibe stehen und warte. Quälend langsam löst sich die Silhouette aus dem Nebel. Endlich erkenne ich, dass es sich um einen sehr, sehr alten Mann handelt. Alles an ihm ist grau, in Staub gehüllt. Er wirkt so zerbrechlich, als ob die kleinste Berührung ihn zerfallen lassen könnte. Dennoch trägt er einen riesigen Rucksack, den zu schleppen ihm alles abverlangt. Er scheint mich noch nicht wahrgenommen zu haben – da merke ich, dass er gar nicht in meine Richtung geht, sondern direkt zum Zaun. Ich warte, etwas abseits. Mit kleinen Schritten nähert er sich und schliesslich erblickt er mich. Er verharrt, dann hält er auf mich zu und ruft etwas. Das heißt, er versucht es, denn nur ein Krächzen ist zu hören. Er schlurft näher, so schnell seine gebrechlichen Beine es ihm erlauben. Als er mich schliesslich erreicht, bricht er vor mir zusammen. Rasch trete ich hinzu, um ihn aufzufangen. Vorsichtig bette ich ihn, so gut es geht, auf den harten Boden. Ich nehme seinen Rucksack ab und durchsuche ihn, auf der Suche nach etwas, das ihm (und mir) helfen könnte. In einer Seitentasche finde ich, eingewickelt in ein Tuch, kleine Würfel. Aus irgendeinem Grund, der mir selbst nicht klar ist, weiß ich, dass sie Proviant sind. Ich nehme das Tuch und lege es unter den Kopf des Mannes, einen der Würfel schiebe ich an seinen Lippen vorbei und in seinen Mund. Die Wirkung ist schlagartig. Er öffnet die Augen. Sie sind überraschend klar und wach. Er sieht mich an – und strahlt. Sein faltenzerfurchtes staubgraues Gesicht mit dem verfilzten Bart ist voller Freude. Er spricht, diesmal verständlich, doch in einer mir unbekannten Sprache. Ich schüttle den Kopf. Er wechselt, anscheinend mehrmals, die Sprache. Ich schüttle wieder und wieder den Kopf. Schließlich sagt er: „Verstehen Sie mich?“ Ich nicke, und erleichtert hält er inne. Seine Augen schließen sich, und eine Art Friede überzieht sein Gesicht.
Ich knie neben ihm, händeringend und weiß nicht, was zu tun ist. Dieser Mann ist meine einzige Hoffnung. Es wäre nicht auszuhalten, wenn er jetzt vor meinen Augen sterben würde. Doch schließlich erwacht er wieder und seine zittrige Hand langt in Richtung der Tasche mit den Würfeln. Ich reiche ihm noch einen. Er schluckt ihn herunter. „Nehmen Sie auch einen. Sie sehen schlecht aus.“ rät er mir. Ohne groß über die Bemerkung nachzudenken schlucke ich einen der Würfel – er schmeckt nach nichts. Sofort macht sich eine Wärme und Fülle in meinem Magen breit, als ob ich eine komplette Mahlzeit zu mir genommen hätte. Ich fühle mich satt und auch mein Durst ist gestillt.
„Was ist das?“ frage ich erstaunt.
„Das weiss niemand genau, aber damit werden wir am Leben gehalten.“ erfahre ich.
Ich habe so viele Fragen an ihn, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. „Wer sind Sie, wo sind wir, warum sind wir eingesperrt, von wem, warum liegen da hinten so viele Menschen einfach nur herum?“ sprudelt es aus mir heraus. Er berührt mich mit beiden Händen an den Schultern, als ob er sich vergewissern will, ob ich real sei.
„Eines nach dem anderen“ antwortet er „Eines nach dem anderen, wir haben viel Zeit und es ist eine lange Geschichte“.
Dann beginnt er zu erzählen…
Nachdem er fertigerzählt hat, sitze ich eine zeitlang da wie gelähmt. Es ist dunkel geworden, aber weder Mond noch Sterne sind zu sehen, der Zaun hinter uns nur schwach zu erahnen. Der alte Mann schläft, erschöpft von seiner Geschichte. Seine Geschichte – er ist verrückt, soviel steht fest. Ich stehe auf und gehe auf und ab, um besser nachdenken zu können. Was er behauptet hatte, spottet jeder Beschreibung. Er sei vor undenklichen Zeiten hier aufgetaucht, so wie die meisten der anderen Menschen. Er sei jung gewesen damals, so alt wie ich. Das muss vor über 60 Jahren gewesen sein, so alt wie er aussieht, denke ich fassungslos. Er hätte ziemlich bald herausgefunden, dass er anders war als alle anderen, da er nicht so apathisch und willenlos war wie all die anderen. Wievielen so wie uns beiden ist er denn begegnet im Laufe der Zeit, hatte ich gefragt. „Keinem!“ war die Antwort gewesen. Er hatte die Versuche, die anderen aus ihrer Lethargie zu befreien irgendwann aufgegeben und hatte begonnen, die Gegend zu erkunden. Es gab nur wenig Nützliches. Alles was hier zu finden war, hatten die Angekommenden mitgebracht, meist Belangloses, nie etwas, das eine Erklärung für ihr Dasein an diesem Ort geliefert hätte. Einige Kompasse waren dabei, doch sie funktionierten nie. Sogar einen Sextanten hatte einer dabei gehabt. Da man hier jedoch nie die Sonne oder Sterne zu Gesicht bekam, war er wertlos. Nahrung entstand spontan in Form der Würfel, die ich bereits kennengelernt hatte. Sofern man lange genug an ein und demselben Ort blieb (Schlaf zählte nicht), erschienen die Würfel einfach aus dem Nichts. Er konnte daher nie lange Wegstrecken in einem Stück zurücklegen, da er sonst verhungert wäre. Alle paar Stunden musste er mindestens eine Stunde pausieren, um auf Würfel zu warten. Wenn er versuchte, ein paar aufzusparen für eine längere Reise, erschienen sie nicht mehr. Dennoch hatte er sich im Laufe der Zeit selbst "Wanderer" genannt - er hatte mittlerweile vergessen, wie er in seinem früheren Leben geheißen hatte.
So vergingen die Jahre und Jahrzehnte mit Wandern, Rasten, Schlafen, Essen und ab und zu dem Untersuchen der Mitbringsel von den wenigen Neuangekommenen (meist fanden sich Uhren, Geld, Schlüssel, Schreibutensilien und dergleichen, selten Bücher). Von gefundenen Lebensmitteln wurde ihm mittlerweile schlecht, er vertrug sie nicht mehr. Durch die erzwungenen Pausen und fehlenden Gesprächspartner hatte er viel Zeit zum Lesen gehabt, das Einzige, was ihn geistig wach hielt. Er hatte etliche Romane, Sprachführer und Wörterbücher auswendig gelernt. Alles was ihm brauchbar erschien und wert, aufgehoben zu werden, hatte er in seinem Rucksack dabei – vor allem Bücher. „Eine Bibliothek der Menschheit“ hatte er scherzhaft gemeint. Doch er hatte nicht lustig geklungen, es war ihm bitterernst. Und er hatte eine Landkarte gezeichnet und sie mir auch gezeigt. Sie war niederschmetternd. Über hunderte, wenn nicht tausende Kilometer war nichts darauf, außer dass ab und zu Kreise eingezeichnet waren, die für Menschenlager, und einige wenige Vierecke, die für eingezäunte Bereiche standen. „Soll das heißen, dass nicht wir eingesperrt sind, sondern die Menschen hinter den Zäunen?“ hatte ich ihn gefragt. Er hatte mich lange angesehen und nur gemeint „Menschen?“. Er sei jahrelang an den Zäunen auf und ab gegangen, hatte manchmal Seltsames gehört, manchmal fremdartige Dinge und Schemen gesehen, die er nicht hatte zuordnen können, aber nie einen echten Menschen.
Das Unerklärlichste für mich, falls das stimmte, war seine Feststellung, dass Leute aus den verschiedensten Gegenden und auch Zeiten hier ankamen. Manche aus seiner Gegenwart, andere aber aus dem 18. Jahrhundert und manche sogar aus dem Mittelalter. An dieser Stelle hatte ich ihn unterbrochen und auf die Unmöglichkeit dessen hingewiesen, was er behauptet hatte. Er hatte nur wortlos seinen Rucksack geöffnet und Bücher, Schriftrollen, Taschenuhren und andere Gegenstände hervorgeholt, die in der Tat hunderte Jahre alt sein mussten, aber wie neu aussahen. „Und manche kommen aus meiner Zukunft“ hatte er gesagt und mich angeblickt. „Als ich hier ankam, gab es keine Uhren mit wechselnden Ziffern und flache Vierecke mit Bildschirmen darin.“ Er hatte mir ein Smartphone aus dem Rucksack geholt. Er verwendete es bloß als Spiegel. Ich hatte ihm erklärt, dass es ein Telefon sei, was er jedoch vehement bestritten hatte und ihn an meinem Verstand hatte zweifeln lassen. Der Akku war natürlich leer.
Schliesslich hatte ich gefragt „Und was jetzt?“ obwohl ich mich vor einer Antwort gefürchtet hatte. Der Greis, schon erschöpft von der langen Unterhaltung, hatte lange ins Leere gestarrt. Schließlich hatte er sich geräuspert und mit fester Stimmte erklärt „Du wirst meinen Weg fortsetzen. Du bist jung, ich bin schon zu alt. Du musst das Rätsel lösen. Du musst das Erbe der Menschheit weitertragen. Du bist jetzt der Wanderer...“
Diese Kurzgeschichte hatte ich vor 4½ Jahren auf Steemit in 4 Teilen publiziert, anlässlich eines Schreibwettbewerbes von @relationtrip. Für Hive habe ich sie jetzt zu einem post zusammengefasst und leicht editiert.
Was denkt Ihr, welche Bewandtnis es hat mit diesem seltsamen Ort? Wie könnte die Geschichte weitergehen? Oder soll sie so wie sie jetzt ist, fertig sein?