Liebe Leser,
nach der Winterpause wird in Wien wieder die bei Touristen beliebte "Dritte Mann"-Tour angeboten, eine Reise in die geschichtsbeladene Kanalisation Wiens, in der schon viele Filme gedreht wurden, so auch der namensgebende "Der dritte Mann" von 1949. Grund genug, sich das einmal anzuschauen!
In Wien gibt es 50000 Kanaldeckel bzw. -schächte (unter anderem auch für die Frischluftzufuhr des Kanalsystems) und insg. ca. 2500 km Kanäle! Wien hatte schon früh, im 18.Jahrhundert ein Kanalsystem, das natürlich seither erweitert und modernisiert wurde.
Die heute üblichen Leitungskanäle haben alle ein sog. Eiprofil, wobei das Ei auf dem Kopf steht. Hier, am Girardipark, wo die Führung stattfand, war ein Segment ausgestellt.
Die kleinsten haben einen Norminnenquerschnitt von 105x70 (Höhe mal Breite in cm), und auch die müssen ab und zu manuell gesäubert werden - keine lustige Arbeit!
Übrigens, wer als erster beantworten kann, warum das Ei auf dem Kopf steht, bekommt ein fettes Upvote!
Über diese Wendeltreppe ging es nach unten.
Den gleichen Einstieg hatte Orson Wells im Film "Der Dritte Mann" auch benutzt, um vor der Polizei zu fliehen!
https://www.eule-wien.at/Article/Startseite/die-3-mann-tour
Unter Klaustrophobie darf man hier nicht leiden!
So sieht ein Kanalschacht von unten aus. Die meisten haben aber nicht diese Kabelstränge (Stromleitungun für die besonderen Lichtverhältnisse im Bereich der Führung).
Die Decken waren meist niedrig und ekliges Zeug hing herab. Gut, dass wir mit Helmen mit Stirnlampen ausgestattet worden waren.
Ein sogenannter Schotterfang.
Hier wird ein Kanal künstlich verbreitert, wodurch das Abwasser langsamer fliesst und sich somit Verunreinigungen absetzen. Alle 6-7 Wochen wird hier zuerst auf einer Seite das Wasser gestaut, sodass es auf der anderen Seite fliesst. Dann kann man beginnen, von oben mit einer Art riesigem Staubsauger (der auch Objekte von Ziegelsteingröße aufnehmen kann!) den Unrat abzusaugen. Dort wo der Saugrüssel nicht hinreicht, müssen händisch Kübel mit dem "braunen Gold" gefüllt und hochgehievt werden. Danach wird das Gleiche auf der anderen Seite gemacht.
Insgesamt werden in Wien pro Tag(!) 15 Tonnen abgelagertes "Material" aus dem Kanalnetz entfernt (Quelle)!
Hier ein Kanal mit recht schnell fliessendem Wasser, rechts ist ein Überlauf, d.h. bei höherem Wasserstand fliesst ein Teil des Wassers in einen Auffangkanal, um zu verhindern, dass das Wasser an anderer Stelle an die Oberfläche steigt.
Alle Bereiche, wo wir waren, werden bei Starkregenfällen komplett überflutet. Die Überflutungen hinterlassen ihre Spuren überall.
Die Arbeiter sind mit der Wetterstation in Kontakt und bei Regen wird das Areal verlassen (unten merkt man oft gar nichts vom Wetter oben). Das Wasser kann nämlich sehr schnell ansteigen, und zur Todesfalle werden. Für Ratten wird es das auf jeden Fall - eine natürliche Populationsbegrenzung!
Apropos Ratten. Gesehen haben wir keine (dazu muss man gar nicht in die Kanalisation steigen 😆, die sieht man nachts gar nicht selten auf Grünflächen und in Mülltonnen), aber in Wien gibt es angeblich 1 bis 1,5 Ratten pro Einwohner, also ca. 2-3 Millionen. Das ist wenig! In den meisten Großstädten sind es ca. 4, in New York sogar 7 Ratten pro Einwohner. In Budapest gab es einmal sogar gar keine Ratten - mit dem Ergebnis, dass sich dort die Katerlaken explosionsartig vermehrt hatten und in Folge Ratten extra wieder angesiedelt werden mussten (Quelle).
Hier mündet der Ottakringer Bach in einen Sammelkanal.
Seit einer schlimmen Choleraepidemie 1830 (durch verunreinigtes Trinkwasser) hatte man systematisch begonnen, viele Bäche unterirdisch zu verlegen, so auch den Ottakringerbach, der heute unter der Thaliastraße verläuft (Quelle). Daher riecht es hier angeblich - kaum zu glauben - manchmal nach Schokolade oder Bier (von der Firma Manner bzw. der Ottakringer Brauerei)! Diese Fetzen, die da vorne rechts an dem Geländer hängen, sind Reste von feuchtem Klopapier, das sich im Gegensatz zum echten Klopapier leider nicht leicht zersetzt, sondern in den Kanälen schwimmt und dann da und dort hängen bleibt (immerhin besser als Nylonstrumpfhosen, die manchmal zu riesigen, mehrere Meter langen, fäkaliengefüllten Gebilden auswachsen, im Kanalarbeiterjargon "Anacondas" genannt). Also beides bitte nicht runterspülen!
An dieser Stelle haben bis in den 1950er Jahren noch Menschen gelebt! Hier ist es auch im Winter relativ warm (und im Sommer kühl). Die Menschen, Strotter genannt, saßen oft tagelang auf der "Sandbank" rechts im Bild und warteten darauf, dass das Wasser Ringe, Schlüssel, Münzen oder anderes Verwertbares anspülte, und verkauften es dann oben. Obdachlose fanden in dem Labyrinth aus Gängen Schlafquartiere. Natürlich war das lebensgefährlich, denn bei Unwettern steigt das Wasser hier, zumindest kurzfristig, bis zur Decke!
Manche, die "Fettfischer", hatten zwischen diesen beiden Einfassungen des Kanals...
an der Wasseroberfläche eine Schnur gespannt, um so Fett (z.B. weggeworfene Reste von Speisefett oder -öl) abzuschöpfen und zu verkaufen! Aus 5kg Fett liess sich 1kg Seife erzeugen. Mehr über die Kanalstrotter in meinem früheren Post dazu.
Erst in den 1970er Jahren wurde das Strottern und Schlafen untertags offiziell verboten.
Der Wienfluß unterhalb des Karlsplatzes.
Die Wien verläuft ja zwischen der Kettenbrückengasse und dem Stadtpark komplett unterirdisch - eine Idee vom Kaiser Franz-Joseph, der dieses Konzept einmal in Frankreich sah und beschloss, es auch für Wien umzusetzen. Auf der freigewordenen Fläche über dem Fluß steht heute unter anderem der Naschmarkt.
Ursprünglich war vorgesehen, die Überwölbung bis Schönbrunn fortzusetzen, aber dann kam Weltkrieg 1 dazwischen und mit dem Ende der Monarchie gab es für dieses Projekt kein Interesse (und Geld) mehr. Neben der Überwölbung war der Zweck der Wien-Regulierung (1894 bis 1904) auch die Schaffung der Trasse für die ehemalige "Stadtbahn" (heute U4). Die U4 verläuft heute noch in der gleichen Trasse rechts vom Flußbett (im Bild der Blick nach Westen). Als ein Zug vorbeifuhr, hörte man es deutlich. Die U1 verläuft an dieser Stelle 10m unter dem Wienfluß.
Die Überwölbung wurde gemacht vor ca. 130 Jahren, erstmals mit Beton, der in Holzverschalungen gegossen wurde, ein damals sehr neues Verfahren, und sie besteht heute noch, komplett unverändert!
Einzig hinten im Bild sieht man eine Unterbrechung der Wölbung. Dort befindet sich die Kärtnertorpassage (ein Untergrundfußweg von der Oper und der U1 bis zum Resslpark).
Verboten ist das Betreten des unterirdischen Teils des Wienflusses nicht, er ist nicht abgesperrt, daher auch die vielen Graffitis an den Wänden. Auch sollen schon Schlauchboote hier durchgefahren sein. Ein skuriller Ort, Party zu machen, ist es auf jeden Fall!
Info zur Führung:
https://www.drittemanntour.at/de/kanaltour
Wann:
Mai bis Oktober, jeweils Donnerstag bis Sonntag,
Online-Reservierung notwendig
Wo:
Karlsplatz-Girardipark, 1010 Wien, vis-à-vis Café Museum
Ticket: 10€
all pics (exc. no.3) by @stayoutoftherz
Witness-Update:
Durch einen spontanen Fehler/Crash muss ich gerade die komplette Chain neu laden und syncen, das kann noch ca. 2 Tage dauern. Ab dann bin ich wieder online. Das war die erste ungeplante Auszeit seit über 4 Monaten.